Karsten Bourwieg über die Corona-Krise, Energieversorgung und Nachhaltigkeit

Karsten Bourwieg

Karsten Bourwieg ist Energierechtsexperte und führt seit Juni 2017 den Vorsitz der Beschlusskammer 8 der Bundesnetzagentur. Herr Bourwieg begann in der Energiewirtschaft als Rechtsanwalt und Syndikus der Trianel Energie, einer kommunalen Kooperationsgesellschaft zum Energiehandel und Beschaffung für Weiterverteiler mit Sitz in Aachen. Mit dem Beginn der Energieregulierung Ende 2005 übernahm er die Referatsleitung des Referates für Rechtsfragen Energieregulierung und Erneuerbare Energien, Entflechtung, Grundsatzfragen der Energieverbraucher der Bundesnetzagentur in Bonn.

Herr Bourwieg, die Coronakrise gibt bereits einen Hinweis auf den Strommarkt der Zukunft, in dem fossile Energien immer weniger zum Zuge kommen. Auf der anderen Seite zeigen sich in der Situation der Pandemiebewältigung auch Herausforderung für eine erfolgreiche Transformation des Energiesektors. Welche ‚lessons learnt‘ ziehen Sie aus der aktuellen Situation für eine erfolgreiche Transformation der Energieversorgung?

Karsten Bourwieg: Bei jeder Herausforderung sofort das ganze System in Frage zu stellen, hat sich ein bisschen eingebürgert. Festzustellen, dass es sich bewährt hat, ist weniger interessant. Daher möchte ich zunächst die positiven Erfahrungen aus der Krisensituation zusammenfassen: die stabile Energieversorgung in der Krise hat gezeigt, dass wir in Deutschland in Krisensituationen auf eine hohe Resilienz in der leitungsgebundenen Energieversorgung zurückgreifen können. Über die hohen technischen Voraussetzungen hinaus wurde dies auch durch einen engen Dialog zwischen  öffentlicher Seite, Netzwerkbetreibern und Betreibern / Produzenten begleitet. Trotzdem haben alle Akteure natürlich erkannt, dass man weiter zusammen daran arbeiten muss, diese Resilienz der Energieversorgung in einem sich verändernden Energiesystem zu erhalten und zu stärken.

Welche in diesem Sinne Erfolgsfaktoren haben aus Ihrer Sicht zu dieser Resilienz geführt?

Bourwieg: Das hat eine technische und eine wirtschaftliche Komponente. Technisch: Das Netzsystem ist kein Ort für Experimente. Robuste, gut ausgebaute und digitalisierte Netze haben wir heute schon, wo es in der Krise gefordert war. Mehr Digitalisierung brauchen wir da, wo sie hilft – aber eben so, dass auch bei einer nächsten, vielleicht größeren Pandemie, die Systemführung, die IT-Sicherheit und die Kontrolle der Akteure funktioniert. Deutschland ist letztlich bislang ohne größere personelle Ausfälle in den kritischen Bereichen durch diese Zeit gekommen.

Wirtschaftlich sieht unser System es vor, dass akute Verbrauchsvolatilitäten, wie sie in den letzten Monate aufgetreten sind, durch die Netzbetreiber sowohl bei den Netzentgelten als auch bei den Umlagen auf die Folgejahre übertragen werden können. Dies gibt einen Produktions- aber auch einen – zumindest in Ansätzen – Investitionsschutz, der in vielen anderen Sektoren nicht besteht.

Das wichtigste Instrument der Energieversorgungssicherheit im liberalisierten Europäischen Binnenmarkt ist die sogenannte Bilanzkreisbewirtschaftung. Bilanzkreise stellen die Verbindung zwischen dem Strom- und Gashandels und der realen Wertschöpfung, d.h. der Energieproduktion und -lieferung und der Netzstabilität her. Bilanzkreise gewährleisten, dass nur die Menge an Energie geliefert wird, die auch produziert uns ins Netz eingespeist wird. Dieser Abgleich passiert bei den Übertragungsnetzbetreibern praktisch in Realzeit, wodurch Volatilitäten und kurzfristige Engpässe in der Versorgung zeitnah erkannt werden können. Im 15-Minuten Takt müssen dann auch die Marktteilnehmer reagieren und Mengen ausgleichen.

Welche Herausforderungen leiten Sie aus der Pandemieerfahrung ab?

Bourwieg: Die größten Herausforderungen an die Versorgungssicherheit stellten natürlich der Infektionsschutz der Mitarbeiter im Sektor da, die teilweise vor Ort in den Betrieben einquartiert wurden, um sie zu schützen und Arbeitsausfälle zu vermeiden und damit die Versorgungssicherheit gewährleisten zu können.

Der dramatische Nachfragerückgang führte zudem zu Verwerfungen an den Märkten. Wie bereits beschrieben, führt unser Regulierungssystem mit dem sog. Regulierungskonto dazu, dass die Strom- und Gasnetzbetreiber kein Mengen und Absatzrisiko tragen. Was sie Pandemie-bedingt nicht absetzen konnten führt zu Mindererlösen, die die Unternehmen in den nächsten drei Jahren nachholen dürfen. Das System ist darauf ausgelegt, dass Mengenschwankungen schon wegen Wetter oder Konjunktur systemimmanent sind und den Infrastrukturbetreiber nicht besorgen sollen.

Unser Regulierungssystem trägt dadurch zur wirtschaftlichen Resilienz des Systems in Krisenzeiten bei. Man erkennt daran auch, warum das Risikoprofil eines Netzbetreibers als geringer eingestuft wird, als das der meisten Marktunternehmen.

Welche Konsequenzen hat die Pandemieerfahrung für erneuerbare Energien und die angestrebte Dekarbonisierung des Energiesektors?

Bourwieg: Die aktuellen Auswirkungen der Krise auf den Stromverbrauch und der Abstieg der Börsenstrompreise ließen zuletzt einen starken Anstieg in der EEG-Umlage befürchten.

Zur Einordnung: Für 2020 dürfte es einen Anstieg der Refinanzierungskosten der EEG-Förderung geben, der ohne Eingreifen des Bundeshaushaltes vielleicht zu einer um 3 ct/kWh höheren EEG-Umlage führen würde. Für den Durchschnittshaushalt mit 3500 kWh pro Jahr bedeutet dies Mehrausgaben von ca. 100 € im Jahr. Durch die Deckelung der EEG-Umlage im Konjunkturpaket, für 2021 auf 6,5 Cent und 2022 auf 6,0 Cent, kann dieser befürchtete Anstieg zunächst verhindert werden.

Generell ist dieser Anstieg dadurch zu begründen, dass der Topf aus dem die EEG-Umlage finanziert wird, in der Pandemiesituation bei gleichbleibenden Kosten und sinkenden Börsenpreisen und aufgrund von sinkendem Verbrauch wesentlich weniger Einnahmen verzeichnet.

Was bedeutet dies für den Vergleich von fossilen und erneuerbaren Energien und für das am 2. Juli 2020 im Bundestag zu verabschiedende Gesetz, mit dem Deutschland bis zum Jahr 2038 aus der Kohlenutzung aussteigen will? Vor dem Hintergrund der Pandemieerfahrung wächst beispielsweise derzeit die Kritik von Umweltverbänden und Wissenschaftler*innen am Gesetzentwurf. Während vorherbefürchtet wurde, der Gesetzentwurf bleibe hinter den Forderungen der Kohlekommission zurück und eine Kohleverstromung bis 2038 sei mit den Klimazielen unvereinbar, sieht man inzwischen ein Risiko darin, dass der Gesetzentwurf den Kohleausstieg sogar verzögert, statt ihn zu beschleunigen, z.B. wenn nur solche Kraftwerkbetreiber Entschädigungen erhalten, die Ihre Werke bis zum Stichdatum auch weiter betreiben.

Bourwieg: Ich kann nicht einschätzen, ob diese Befürchtungen berechtigt sind. Dafür müsste man schauen, ob durch die im Gesetzentwurf vorgeschlagenen Fristen und Mechanismen  für die Entschädigung der Stilllegung  der Produktion fossiler Energien falsche Anreize gesetzt werden. Außerdem gehöre ich zu denen, die darauf hinweisen, dass wir zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit auf absehbare Zeit und an den richtigen Stellen im Netz auch ein Maß an gesicherter, konventioneller Erzeugungsleistung brauchen, die sich auch über ihre Einsätze finanzieren können sollten.

Bei rückgängigem Verbrauch durch das Aussetzen der Industrieproduktion und besten wetterbedingten Produktionsbedingungen für die erneuerbaren Energien wurde in den letzten Monaten vielleicht der Eindruck vermittelt, dass erneuerbare Energien schon jetzt fossile Energien ersetzen könnten. Das war aber für das System schon eine angespannte Lage und wir sind noch nicht in der Situation, dass wir das als Dauerzustand erklären könnten.

Richtig ist aber auch, dass wir an vielen Stellen ja schon umgesteuert haben, so z.B. über die Ausschreibungen für die EE-Finanzierung. Off-shore Windparks sind bereits heute z.T. ohne zusätzliche Förderungen rentabel. Einschränkend möchte ich sagen, dass diese Anlagen die Netzanbindung nicht selber zahlen müssen.

Die übergeordnete und sehr wichtige Frage, wie wir die EE-Ausbau- und Klimaziele als Industrieland langfristig erreichen können, kann daher nicht aus der Pandemieerfahrung heraus beantwortet werden.

Welche weiteren langfristigen Herausforderungen sehen Sie derzeit für eine erfolgreiche Energiewende? Und welchen Forschungsbedarf leiten Sie daraus ab?

Bourwieg: Eine wichtige Frage wird sein, wie wir die Marktintegration des Stroms aus der ersten Generation von ca. 1,7 Millionen Kleinanlagen, deren Förderung  demnächst ausläuft, sicherstellen können. Auf der einen Seite wird das Auslaufen der Förderung dieser Anlagen die EEG-Umlage entlasten. Auf der anderen Seite muss .die Netzeinspeisung des über diese Anlagen produzierten Stroms in das System dann anders erfolgen, da die Vermarktung über die EEG-Wälzung nicht mehr automatisch stattfindet. Nach 20 Jahre EEG ist genau jetzt der richtige Moment, diese Anschlussregelungen zu treffen.

Forschungsbedarf sehe ich in Bezug auf diese und andere Fragestellungen in der in diesem Sinne intradisziplinären Analyse, durch Ökonomen und Wirtschaftswissenschaftler, Juristen und natürlich Technik- und Naturwissenschaften, darin, wie wir Energie durch für die Produzenten, Netzbetreiber und auch die Konsumenten kostenverträgliche Lösungen weiterhin zugänglich machen können. Für solche Analysen muss der Austausch zwischen den unterschiedlichen Experten und Schnittstellen im Sektor weiter verbessert werden, die sich Gedanken um die praktische Umsetzung und Durchsetzung machen. Es gibt viele tolle Ideen, aber zu Wenige, die sich um die realen Umsetzungsfragen kümmern. Aber nur das ist nachhaltig.

Die wesentlich größere Fragestellung, die aber von der Beantwortung all dieser augenscheinlich sehr speziellen Einzelfragen direkt abhängt ist die wirtschaftliche Frage nach der Finanzierung der Energiewende, die wiederum über die  Verteilungsfrage – wer zahlt was im Stromsektor –  hinausgeht. Wenn wir das Energiesystem langfristig stärker elektrifizieren wollen, dann müssen die Stromkosten insgesamt runter: für die EEG-Umlage, für die Netze, für die Zählerinfrastruktur. Vor dem Hintergrund der ungeheuren Kosten der Energiewende insgesamt, sollten wir uns fragen, wo im Stromsystem Kostensenkungen vorangetrieben werden können, ohne dass die Versorgungssicherheit auf das Spiel gesetzt wird. Im Bestand fallen mir da die Kosten für sog. „vermiedene NE“ ein, welche sich immer noch auf ca. 1 Mrd. EUR im Jahr belaufen, die Engpasskosten, die wir durch zügigen Netzausbau minimieren könnten, was ca. 1 Mrd. EUR im Jahr einsparen würde sowie die Kosten für diverse Reserveprodukte, z.B. Netzreserve, Kapazitätsreserve, Sicherheitsreserve Braunkohle, besondere netztechnische Betriebsmittel etc., für die wir auch ca. 1 Mrd. EUR im Jahr  ausgeben werden.

Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie und die Agenda 2030 mit ihren siebzehn globalen Nachhaltigkeitszielen zeichnen sich dadurch aus, dass sie Sektoren-übergreifend sind, d.h. alle Sektoren tragen zur Zielerreichung bei. Neben dem Energiesektor, werden vor diesem Hintergrund Bedarfe für Transformationen in der Kreislaufwirtschaft, den Bau- und Verkehrssektoren, dem Agrar- und Ernährungssektor sowie im Gesundheitssektor verortet. Wo sehen Sie aus Ihrer Perspektive, aus dem Energiesektor heraus, Schnittmengen und Austauschbedarfe mit Akteuren in anderen Sektoren und Politikfeldern?  

Bourwieg: Generell sehe ich den Mehrwert der aus einem Sektor-übergreifenden Austausch gezogen werden kann. Perspektivisch, d.h. mit dem Ziel der Stromkostensenkung vor Augen, sehe ich einen Mehrwert z.B. darin, mögliche Zielkonflikte und Synergien auszuloten, die durch teils parallele Veränderungen in anderen Sektoren und hieraus resultierende Mehrbelastungen und Gewinne für Produzenten (z.B. CO2-Kosten) und den Endverbraucherhaushalten entstehen. Wichtig ist es hierbei aus meiner Sicht aus dem Energiesektor heraus, Sektor-Kopplungen nicht bzw. nicht primär über Stromkosten zu bezahlen, schon um die richtigen Anreize und Innovationsimpulse zu setzen. D.h. Ladesäulen für E-Autos sollten so eingeführt werden, dass sie nicht die Netz- oder Stromkosten erhöhen, weil sie primär dem Verkehr und nicht dem Strommarkt dienen. Der Rollout von smarten Zählern sollte primär  neuen Produkten dienen und von den Anbietern bezahlt werden, Forschungsvorhaben z.B. für P2Gas – Anlagen sollten öffentlich finanziert werden, nicht über die Netzkosten, etc. Wenn alle neue Ideen aus den verschiedenen Sektoren, Kosten im Stromnetz verursachen, die von den Netzentgelten oder über die Stromkosten und -umlagen finanziert werden, wird die Elektrifizierung teuer. Allerdings ist CO2 – freie Energie ein knappes Gut. Daher ist Energieeffizienz ebenfalls sehr wichtig und wird über den Energiepreis angereizt. Die immensen staatlichen Investitionen, die im Zuge der Pandemiebewältigung bereits getätigt wurden und geplant sind, werden diese Finanzierungsfragen in einer zuletzt für Deutschland ungekannten Dringlichkeit in den Fokus zukünftiger politischen Debatten rücken.

Dies muss aber nicht unbedingt von Nachteil für nachhaltigkeitspolitische Fragestellungen und Zielsetzungen sein. Würde man bspw. kurzerhand das EEG abschaffen – diesen „Vorschlag“ hört man ja immer wieder mal von Kritikern – dann wären die Kosten durch Förderzusagen aus der Vergangenheit ja nicht weg. Wir leben in Deutschland und da sind öffentliche Zusagen hoffentlich auch in und nach Krisenzeiten einzuhalten.

Also geht es darum, aus welchem Topf diese Kosten der Vergangenheit getragen werden und wohin wir das Geld des Staates und der Bürgerinnen und Bürger künftig und im Sinne der Nachhaltigkeit lenken. Dabei will ich nicht den Eindruck erwecken, das seien einfach zu beantwortende Fragen – weder für die Wissenschaft, noch für die Politik.

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