Interview mit Christa Liedtke zur Konsultationsfrage 2

wpn2030-Co-Vorsitzende Prof. Christa Liedtke (Wuppertal Institut, Folkwang Universität der Künste), spricht im Interview zur Konsultationsfrage 2: Wo und wie lassen sich nachhaltig systemisches Denken und Handeln in politischen Strukturen und Prozessen weiterentwickeln?

 

Frau Professorin Liedtke, was zeigt uns die Corona-Krise hinsichtlich systemischer Wechselwirkungen in besonderem Maße auf?

Prof. Christa Liedtke: Sie zeigt etwa eindrücklich die Vernetzung unserer gesellschaftlichen Systeme über verschiedene Ebenen der Governance hinweg.  Kommunalpolitik, Landespolitik, Bundespolitik, EU-Politik – sie alle müssen sich abstimmen, um die Folgen der Krise zu bewältigen – und dabei ihre jeweiligen Stärken zum Tragen bringen. Die gegenseitigen Wechselwirkungen und Abhängigkeiten der Akteure scheinen nun in besonderem Maße auf. Und gleichzeitig wird deutlich: Wie verletzlich einerseits die Abhängigkeiten machen – und andererseits wie viel in wie wenig Zeit gemeinsam bewegt und bewältigt werden kann. Diese Erfahrung sollte genutzt werden, damit die unterschiedlichen Akteure stärker miteinander auch zu Produktions- und Konsummustern in den Austausch kommen und sie in Richtung Nachhaltigkeit und Resilienz weiterentwickeln.

Gibt es für dieses Beispiel auf bestimmten Ebenen besonderen Stärkungsbedarf?

Liedtke: Einen besonderen Stärkungsbedarf sehe ich bei den Governancestrukturen in den Kommunen und Quartieren. Sie sind der Ort des Geschehens: Dort entsteht der konkrete Konsum-Bedarf und, grundsätzlich, auch nachhaltige Lösungsansätze dafür. Dort kann man am besten über ihn reflektieren und über die Frage, wie er nachhaltig gedeckt werden kann.

Vor Ort sollte also der direkte Kontakt von Bürger*innen intensiviert werden mit Unternehmern und Politikern, also Akteuren, die übergreifend soziale und infrastrukturelle Innovationen entwickeln, umsetzen und steuern – etwa in Sachen Mobilität, Ernährung und Wohnen.

Über einen solchen Austausch vor Ort hinaus – wo und wie gilt es noch, nachhaltig systemisches Denken und Handeln in politischen Strukturen und Prozessen weiterentwickeln?

Liedtke: Ein Instrument, das bereits genau diesen Anspruch ausdrücklich hat, ist die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie (DNS) – sie sollte nun noch weitaus stärker als Krisenbewältigungs- und Zukunftsprogramm strategisch ambitioniert ausgebaut werden.

Dazu gehören Impulse für einen resilienzorientierten nachhaltigen Gesellschafts- und Wirtschaftsrahmen, der die politischen Aktivitäten und Strategien unter dem Dach der DNS sowie der Agenda 2030 der UN mit ihren Sustainable Development Goals (SDGs) zusammenfasst. In diesem Rahmen sollten genau an den Stellen kritische und teils konfliktbeladene politische Auseinandersetzungen ausgetragen und integriert werden, wo bisherige Implementierungsarbeit noch nicht transformativ wirken konnte.

Die SDGs und die DNS sind für mich ein Gesellschaftsvertrag, der die Zukunft unserer Gesellschaften, lokal bis global, menschengerecht, wirtschaftlich und ökologisch gestalten und tragen sollte. Corona-Krise, Klimawandel und auch viele soziale Verwerfungen fordern in unserer Gesellschaft dazu auf, die DNS mit Blick auf Vorsorge und Resilienz zu einem wirkungsvolleren „Natur-Gesellschaftsvertrag“ fortzuentwickeln.

Sehen sie auch auf der Ebene des Individuums Bedarf stärker nachhaltig systemisch zu denken und zu handeln?

Liedtke: Definitiv. Ein gutes Leben basiert grundlegend auf Gesundheit, aber auch auf vielen unterschiedlichen und wechselwirkenden Faktoren wie die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, Wertschätzung und Anerkennung sowie Entfaltungsmöglichkeiten in sicheren sozialen Netzwerken. Ob unser Immunsystem gestärkt ist oder nicht, hängt stark von den jeweiligen Lebensbedingungen und der psychischen Verfassung ab. Die SDG adressieren den Menschen im Mensch sein – dies ist eine zentrale politische Aufgabe, „human well-being“ als Haltung und politische Zielsetzung. Insbesondere hier ist die DNS noch nicht hinreichend ambitioniert und sollte sich durch eine deutliche Stärkung diesbezüglich zum zentralen Bestandteil der Corona-Bewältigung fortentwickeln.

 

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