Interview mit Jörg Fegert: Berücksichtigung von Kindern und Jugendlichen

Prof. Jörg Fegert, Universitätsklinikum Ulm, Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Wie werden Kinder, Jugendliche und kommende Generationen in der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie betrachtet? Warum ist es so wichtig, auch Familien explizit mit zu berücksichtigen? Welche Aspekte wären besonders wichtig für die Verbesserung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie aus familienpolitischer Sicht? Darüber spricht Jörg Fegert im Interview.

 

Herr Fegert, wie blicken Sie aus familienpolitischer Sicht auf die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie?

Jörg Fegert: Zunächst einmal fällt auf, dass das Wort Familie auch in der überarbeiteten Fassung der Strategie von 2018 im Zusammenhang mit Kindern nur im Kontext von Bildung und Betreuung erwähnt wird. Kinderbetreuung wird dabei als „notwendige“ Voraussetzung zum wichtigen Gleichberechtigungsziel der Vereinbarkeit von Familie und Beruf angesprochen.

Obwohl ja unstrittig ist, dass Bemühungen um nachhaltige Politik mit der Vorsorge für nachfolgende Generationen begründet werden, werden Kinder und ihre zentralen Sozialisationsinstanzen – also Familie, Erziehungspartner und Schule etc. – bislang nur am Rande bedacht.

Aus meiner Sicht als Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen muss dieser zentralen Rolle von Familie und der Verantwortung über Generationen hinweg (vgl. Beirat für Familienfragen 2005) in der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie dringend stärker Rechnung getragen werden.

Können sie die zentrale Rolle der Familie für Kinder und Nachhaltigkeit noch etwas konkretisieren?

Fegert: Familie ist ein zentraler Ort, an dem Zukunft gestaltet wird – im Positiven wie im Negativen. Die meisten Fälle von Vernachlässigung, Misshandlung und sexuellem Missbrauch geschehen in der Familie. Belastende Kindheitsereignisse (Adverse Childhood Experiences – ACE), neben den genannten Misshandlungsformen auch Probleme in der Familie (household dysfunction wie häusliche Gewalt oder das Aufwachsen von Kindern mit einem suchtkranken, psychisch kranken Elternteil) bringen nachweislich ein massiv erhöhtes, gesundheitliches Risiko mit sich und verringern Chancen auf Teilhabe, Lebensqualität und Lebenszufriedenheit – was wiederum ganze Gesellschaften und deren Zukunft prägen kann. Nach einer aktuellen Repräsentativumfrage haben etwa ein Drittel aller Deutschen mittelschwere bis schwere Vernachlässigungs-, Misshandlungs- oder sexuelle Missbrauchshandlungen in ihrer Kindheit erlitten.

Das Nachhaltigkeitsziel 16 der UN wird in der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie in Bezug auf das Unterziel 16.2 bislang nicht ausreichend übersetzt. Lediglich zwei Indikatoren und Zielbereiche der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie beziehen sich explizit auf Kinder und Jugendliche: Unter SDG 3 Gesundheit und Wohlergehen, Indikator 3.1.e zur Adipositasquote von Jugendlichen, welcher den Anteil der 11- bis 17-jährigen Jugendlichen mit Adipositas abbildet, sowie unter SDG 4 Hochwertige Bildung, der Indikator 4.2.a, b zur Ganztagsbetreuung für Kinder. Zentrale Ziele im Kinderschutz werden hingegen bislang komplett negiert, obwohl die globale Agenda 2030 der UN hier klare Indikatoren, die regelmäßig gemessen werden sollen anspricht. Zum globalen SDG 16 wurden zum Beispiel der Indikator 16.2.1 zur Erfassung von Körperstrafen durch Bezugspersonen im letzten Monat sowie der Indikator 16.2.3 mit dem die jeweils jüngste Erwachsenengeneration zwischen 18 und 29 Jahren regelmäßig nach erlebter sexueller Gewalt vor dem 18. Lebensjahr befragt werden soll.

Welche Aspekte bezüglich Kinder und Familie sollten ihrer Ansicht nach in der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie berücksichtigt werden?

Fegert: Aus meiner Sicht müssen Kinderschutzkriterien integriert werden. Die Folgen früher Formen von Vernachlässigung, Misshandlung und sexuellem Missbrauch wurden in der Deutschen Traumafolgekostenstudie auf der Basis eines deutschen Krankenkassendatensatzes auf die Gesamtbevölkerung Deutschlands hochgerechnet. In einem moderaten Modell führen diese zu psychosozialen Folgekosten von ca. 11 Milliarden Euro jährlich. Die WHO spricht davon, dass in diesem Bereich auch im Gesundheitswesen noch ‚best buys for money‘ möglich sind und dass deshalb massiv in den Ausbau des Kinderschutzes investiert werden müsse. Hier ergibt sich auch ein klarer Zusammenhang mit den gesundheitsbezogenen Nachhaltigkeitszielen, da belastende Kindheitsereignisse hochsignifikant das Risiko für eine Lebensverkürzung oder auch für Adipositas und Suchterkrankungen massiv steigert.

Generell betont das globale Nachhaltigkeitsziel SDG 16 die Bedeutung friedlicher und inklusiver Gesellschaften für eine nachhaltige Entwicklung. Die Inklusionsdebatte in Deutschland, bezogen auf die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, die in Deutschland seit 10 Jahren in Kraft ist und bezogen auf die Prinzipien der UN-Kinderrechtskonvention, die seit 30 Jahren in Kraft ist, stellt zentrale Nachhaltigkeitsfragen nicht nur für den Bereich Bildung, sondern für die Zukunft unserer Gesellschaft. Wie viele junge Menschen in dieser Gesellschaft sich dazugehörig fühlen können, wie stark gesellschaftliche Teilhabe für Kinder und Jugendliche und ihre Familien realisiert werden kann, hängt auch von der Qualität rechtsstaatlicher Umsetzung und von inklusiven Institutionen, wie z.B. Kitas und Schulen, auf allen Ebenen ab.

Familienpolitische Themen sind Querschnittsthemen. Zukunftsgewandte Familienpolitik benötigt deshalb Kooperation, Transparenz und Konsistenz und Verlässlichkeit. Der Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen hat folgende Ansatzpunkte für eine zukunftstaugliche Familienpolitik konsentiert (Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen, 2016), die zahlreiche Anknüpfungspunkte für die DNS aufweisen:

1. Realisierung von Kinderwünschen durch familien- und kinderfreundliche Politik erleichtern

2. Ökonomische Leistungen von Familien angemessen berücksichtigen und Mehrbelastungen ausgleichen, Erwerbsarbeit ermöglichen, von der Familien in allen Lebensphasen und unter allen strukturellen Bedingungen leben können

3. Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ein Thema für Frauen und Männer. Dies impliziert geschlechtergerechte Änderungen im Deutschen Steuer- und Sozialversicherungsrecht und die Verringerung des Lohngefälles von Männern zu Frauen

4. Frühe Förderung für alle Kinder zugänglich machen und Kinderarmut bekämpfen

5. Zeit für Familienleben schaffen. Dabei muss auch die flexible Übernahme von Verantwortung für Kinder und Pflege von Angehörigen ohne berufliche Nachteile ermöglicht werden, z.B. durch die Entwicklung einer systematischen Zeitpolitik für Familienaufgaben

6. Rahmenbedingungen für gelebte Solidarität zwischen den Generationen verbessern

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