Interview mit Stefan Liebig: Verteilungsgerechtigkeit erfassen

Prof. Stefan Liebig, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Sozio-Ökonomisches Panel

Ist der Gini-Koeffizient hinreichend für die Erfassung von Verteilungsgerechtigkeit? Wie könnte sie besser erfasst werden? Welche Forschung sollte einbezogen werden in die politischen Entscheidungen über Maßnahmen zur Stärkung der Verteilungsgerechtigkeit? Darüber spricht Stefan Liebig im Interview.

 

Alle drei Indikatoren für Verteilungsgerechtigkeit (SDG 10) in der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie beziehen sich auf den Gini-Koeffizienten. Wir beurteilen Sie dessen Aussagekraft für die Abbildung von Verteilungsgerechtigkeit in Deutschland?

Stefan Liebig: Den Gini-Koeffizienten sehe ich als problematisch: Zunächst bildet er die Abweichung von der Gleichverteilung etwa von Einkommen ab. Je höher der Gini-Koeffizient, desto ungleicher ist die Einkommensverteilung. Die Annahme, dass Gleichheit ein an sich anzustrebender gesellschaftlicher Zustand ist, ist jedoch durchaus fraglich. Denn bestimmte Ungleichheiten, etwa in den Erwerbseinkommen, werden in der Bevölkerung durchaus als gerecht angesehen, wenn sie beispielsweise die erbrachten Leistungen oder auch den gesellschaftlichen Mehrwert widerspiegeln. Derartige, differenzierte Vorstellungen über eine gerechte Verteilung in der Gesellschaft können durch den Gini-Koeffizienten aber nicht abgebildet werden.

Darüber hinaus müssen Veränderungen im Gini-Koeffizienten immer in Relation gesehen werden. Beispielsweise können gesellschaftliche Veränderungen wie der demographische Wandel zu einem Anstieg des Gini-Koeffizienten und einer Zunahme von Einkommensungleichheiten in einer Gesellschaft führen, ohne dass dies zwingend als ungerecht wahrgenommen wird, etwa wenn sich das Verhältnis der Altersgruppen in einer Gesellschaft verschiebt und es deshalb mehr Bezieher von Altersrente gibt. Oder wenn ein größerer Anteil der Bevölkerung längere Ausbildungszeiten in Kauf nimmt, in dieser Zeit aber nur geringere Einkommen bezieht. Über die Sinnhaftigkeit des Gini-Koeffizienten hinaus bleiben in der DNS und im Indikatorenbericht also wichtige Fragen zur Verteilungsgerechtigkeit in Deutschland unbeantwortet – Verteilungsgerechtigkeit nur auf Gleichheit zu reduzieren ist sehr verkürzt.

In einem Interview (in der FAZ, Januar 2018) haben Sie auf die derzeitig zu beobachtende Diskrepanz zwischen der wahrgenommenen Verteilungsgerechtigkeit und der real existierenden Ungleichheit in Deutschland hingewiesen. Was kann man daraus für die Weiterentwicklung der DNS lernen?

Liebig: Zunächst einmal ist es wichtig, sich ausschließlich die tatsächlichen Einkommens- und Vermögensverteilungen in einer Gesellschaft anzuschauen und daraus Aussagen über Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit abzuleiten. Es gibt einfach als gerecht und als ungerecht wahrgenommene Ungleichheiten. Nur ungerechte Ungleichheiten stellen tatsächlich ein gesellschaftliches Problem dar und fordern politisches Handeln. Dabei spielen die Vorstellungen der Menschen, ihre Wahrnehmungen und Bewertungen von Ungleichheit eine zentrale Rolle. Wir erkennen auch zunehmend, dass weniger die objektiven Ungleichheiten politisches Handeln bestimmen, sondern die tatsächlich von der Bevölkerung wahrgenommen Verhältnisse relevant sind.

Hinzu kommt, dass die existierenden Vermögensungleichheiten nur langsam in der Forschung stärker beachtet werden. Sie werden aber in Zukunft die Lebenssituation vieler noch stärker bestimmen, weil es zu einer zunehmenden Entkoppelung von Einkommen und Vermögen kommt. Zudem lassen sich Vermögensungleichheiten nur schwer politisch steuern, weil sie ja auch historisch gewachsen sind. Ostdeutsche Haushalte hatten im Vergleich zu denjenigen in Westdeutschland weniger Zeit Vermögen zu bilden.

Ein weiterer Punkt sind die Ausgaben der Haushalte. Wenn ich monatlich 2.500 Euro zur Verfügung habe, macht es eben einen Unterschied, ob ich in München oder in Anklam lebe. Wenn grundlegende Lebenshaltungskosten stärker steigen als die Einkommen, dann bedeutet dies eine Verschlechterung für die Haushalte, die durch den alleinigen Blick auf die Einkommens- und Vermögensungleichheit nicht sichtbar werden. Die Einnahmen- und Ausgabenseite muss gemeinsam in den Blick genommen werden.

Entscheidend ist dabei auch die zeitliche Entwicklung. Das Problem besteht in der Verfestigung von Ungleichheitsstrukturen insbesondere in den unteren Einkommensgruppen. Deshalb ist auch ein wichtiger Indikator für die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit inwieweit Personen oder Haushalte ihre Einkommens- und Vermögenssituation über die Zeit verändern können. Wenn junge Erwachsene in ihrer Ausbildungszeit 1000 Euro zur Verfügung haben und damit nach den üblichen Kriterien als „arm“ zu bezeichnen sind, dann ist dies sozialpolitisch eigentlich irrelevant. Denn diese „Einkommensarmut“ ist nur zeitlich befristet und danach kann dieser Personenkreis – insbesondere wenn sie ein Studium absolviert haben – mit einem Vielfachen dieses Einkommens rechnen.

Darüber hinaus zeigt die Forschung, dass die wahrgenommene Verfahrensgerechtigkeit besonders wichtig ist. Dies bezieht sich darauf, wie Entscheidungen über die Verteilung von Gütern oder Lasten gefällt werden und wie die geltenden Regeln angewandt werden. Als ungerecht wird dann eben auch wahrgenommen, wenn etwa das Management Fehlentscheidungen trifft, diese aber nicht sanktioniert werden, während gleichzeitig Mitarbeiter in Folge dieser Fehlentscheidungen entlassen werden.  Regeln also nur für bestimmte Gruppen gelten, für andere nicht. Genauso spielen auch weitere Faktoren eine wichtige Rolle für die Wahrnehmung von Verteilungsungerechtigkeit. Auf die langfristigen Ziele der nachhaltigen Entwicklung bezogen etwa die unterschiedlichen Chancen und Möglichkeiten bzw. Belastungen von Generationen.

Die Vieldimensionalität von Gerechtigkeit im Allgemeinen und Verteilungsgerechtigkeit im Speziellen anzuerkennen, die Ansichten der Bevölkerung einzubeziehen und die Vielschichtigkeit von Ungleichheiten sowie die Faktoren, die sie bedingen, klar zu beschreiben und in den Analysen zu berücksichtigen, ist deshalb aus meiner Sicht eine zentrale Bedingung zur Ausgestaltung einer DNS.

Welche Alternativen zu den jetzigen Indikatoren  könnten Ihrer Ansicht nach die Verteilungsgerechtigkeit in Deutschland  besser abbilden?

Liebig: Die Limitierungen des Gini-Koeffizienten werden seit Jahren kritisch in der Wissenschaft diskutiert, und mittlerweile kann auf eine Reihe von alternativen oder ergänzenden Indikatoren zurückgegriffen werden. Wichtig für die Auswahl alternativer oder zusätzlicher Indikatoren ist, dass sie normative Annahmen miteinbeziehen und auf den Prüfstand stellen. Zur Funktionsweise von Verteilungsgerechtigkeit in unserer Gesellschaft wären dies etwa die Einhaltung des Leistungsprinzips bei der Entlohnung oder die Chancengleichheit in der Akkumulation von Vermögen.

Zentral wäre eine detailliertere Beschreibung von Ungleichheiten und ihrer Dynamik unter Berücksichtigung der Ausgaben- und Einnahmenseite der Haushalte und ihrer regionalen Verschiedenheiten – dabei sind eben auch spezifische Problemgruppen in der Gesellschaft stärker in den Blick zu nehmen. Neben der objektiven Situation müssen auch die Einstellungen und Meinungen der Bevölkerung – also was wird als eine gerechte Gesellschaft angesehen – einbezogen werden. Dies beinhaltet auch eine genauere Analyse, was tatsächlich als ungerechte Ungleichheiten wahrgenommen und bezeichnet wird

Welche Forschung sollte einbezogen werden in die politischen Entscheidungen über Maßnahmen zur Stärkung der Verteilungsgerechtigkeit?? 

Liebig: Neben der Indikatorik sehe ich einen wichtigen Beitrag der Forschung darin, Aussagen zu den Ursachen und Folgen von als ungerecht wahrgenommenen Ungleichheiten beizusteuern. Die Wissenschaft sollte die Politik darin unterstützen, ein tieferes Verständnis von den Ausgangssituationen und Perspektiven verschiedener Einkommens- und Vermögensgruppen zu erlangen, um Politiken und Maßnahmen zur Stärkung der Verteilungsgerechtigkeit passgenauer zu unterstützen.

Ein Beispiel für Maßnahmen, die die Verteilungsgerechtigkeit stärken können sind Politiken zur Schaffung von und Erleichterung des Ersterwerbs von Wohnraum, da Wohnraum einer der höchsten Kostenpunkte für Haushalte darstellt und der Erwerb von Wohneigentum  eine Grundlage für die Akkumulation von Vermögen durch Einkommen ist. Im Indikatorenbericht 2018 steht hierzu unter SDG 10 Verteilungsgerechtigkeit, dass die Menschen im Vergleich zu anderen europäischen Ländern wegen des starken Mieterschutzes in Deutschland häufiger zur Miete als in der eigenen Immobilie leben. Die Effektivität von Fördermaßnahmen wie das Baukindergeld oder weiterbestehende Hindernisse, die den Ersterwerb von Immobilien für unterschiedliche Einkommens- und Bevölkerungsgruppen erschweren, werden nicht problematisiert. Dies ist nur ein Beispiel anhand dessen die Forschung durch tiefergehende Analysen zur Wahrnehmung der Verteilungsgerechtigkeit in Deutschland politische Maßnahmen  informieren kann. Analysen zu diesen und anderen Fragestellungen können der Politik verstehen helfen, welche Maßnahmen die faktische sowie die wahrgenommene Verteilungsgerechtigkeit in Deutschland und damit die gesellschaftliche Kohärenz und Akzeptanz von Transformationsprozessen hin zu einer nachhaltigen Entwicklung stärken können.

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