Günther Bachmann zu Corona und Nachhaltigkeit

Günther Bachmann (RNE) in einer Lenkungskreissitzung

wpn2030-Lenkungskreismitglied Prof. Günther Bachmann schreibt in seinem Beitrag unter anderem über Wissenschaft, Politik, Gemeinschaft und Vorsorge im Zusammenhang mit der Corona-Epidemie und Nachhaltigkeit:

 

Corona und Nachhaltigkeit –
Anthropozäische Nähe und andere Gedanken zu Wissenschaft,
Politik, Gemeinschaft, Vorsorge

Berlin und Frankfurt, 7.4.2020

Der Modus des Gegenwärtigen

Der richtige Zeitpunkt für weitreichende Konsequenzen oder die Bestätigung von Bewährtem steht noch bevor. Vieles lässt sich noch nicht übersehen, zum Beispiel zentrale verfassungsrechtliche, außen- und europapolitische Aspekte, aber auch die Soziologie der manisch-absurden Hamsterkäufe oder die Rolle der medialen Halböffentlichkeit.

Noch herrscht die Gegenwart, die uns alle mit täglich Neuem in Atem hält. Das politische „Entscheiden auf Sicht“ ist der richtige Modus. Der Modus der Gegenwart ist die Gefahrenabwehr und der Aufbau von Vorsorge. Die aufkommenden Exit-Forderungen sind zwar verständlich, aber kurzatmig, als würde jemand aus anderen Gründen vorsätzlich die Wirtschaft kaputt-stilllegen wollen oder als hielte allein ein Arbeitsplatz vor häuslicher Gewalt ab.

Der Modus des Gegenwärtigen mahnt zuerst und vorrangig unser Mitgefühl mit den Opfern und Gefährdeten an. Er gebietet Respekt für die Mediziner und Pflegekräfte. Er fordert würdevolle Selbstdisziplin und Verzicht. Er erinnert an die Not der Anderen, sei es in unseren Nachbarländern oder im globalen Süden, deren Eigenhilfe viel geringer als die unsere ist und sein wird.

In Krisen muss man vom Schlimmsten sprechen, weil man damit rechnen muss. Das hilft in der Regel aber nichts, wenn man nicht auch die Möglichkeit des Besseren und Guten in Betracht zieht: Dass sich die Mehrheit der Menschen mit dem Verzicht arrangiert; dass es der Politik gelingt, einer gesamtgesellschaftlichen Bedrohung tatsächlich einmal ein Gemeinschaftswerk mit höchsten Zustimmungswerten entgegenzusetzen; dass sich so manches systematisch bewährt, was bislang nie im Fokus stand.

Schon allein das Wort „Exit“ leitet womöglich in die Irre. Ein einfaches Zurücksetzen auf den Status quo vor dem Corona Ausbruch wäre schön, aber dürfte nur für manche möglich und jedenfalls nicht für alle prägend sein. Dafür sind die Einschnitte wohl zu tief und dafür prägt die Pandemie das kulturelle Gedächtnis zu stark. Statt eines Exit wäre ein Enter wohl eher sachgerecht. Denn vorläufig und unvollständig zeigt sich Neues in ersten Umrissen. Und was sich da zeigt, kann sich sehen lassen.

Der Mensch erreicht das Virus

Nicht das Virus erreicht den Menschen, sondern der Mensch das Virus. Die Pandemie ist kein überraschender Unfall. Sie war vorhergesagt und sie ist zwangsläufig. Bei allem, was wir noch über Ursprung und Übertragungsvektoren von Corona lernen werden, liegt schon heute der Schluss nahe, dass der Überfall durch den Virus Teil etwas Größerem ist. Denn im Grunde ist es das Anthropozän[1], dem man neben den virologisch ermittelten primären Wirten der Pandemie den ersten Platz einräumen muss. Auf den Märkten in Asien unterschreiten Menschen die an sich bestehenden, gesunden Distanzgrenzen zwischen Wildtieren und Menschen. Sie geben dem Virus freie Bahn, die die SARS Viren von den Fledertieren über Zibetkatzen und Pangulin nutzen. Auch Ebola und weitere Erreger machte erst die anthropozäische Nähe „virulent“. Das muss nachdenklich machen.

Unerhört vorhergesagt

Die Vorhersage war vielstimmig und blieb ungehört. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe hat im Jahr 2012 einen hypothetischen Verlauf einer Pandemie in Deutschland beschrieben und dem Bundestag vorgelegt.[2] Es gibt einen nationalen Pandemieplan für risiko- und bedarfsorientierte Vorsorge und die Abwehr von Gefahren. Er wird regelmäßig angepasst, aber ist offenbar kaum handlungsleitend.

Unter denen, die frühzeitig gewarnt haben, sind Experten aus Epidemiologie und Virologie, was nicht weiter verwundert. Aber unter ihnen sind auch ganz unerwartete Stimmen. Die Gates-Stiftung finanzierte 2019 ein Projekt, das die Pandemie eines aggressiven Virus simuliert und übungshalber ein Manöver zur Krisenreaktion organisierte. Das Ergebnis sprach für die Warnung und gegen die damalige Aufstellung der Politik: 65 Millionen Tote. Der Hintergrund für Gates ist das Ebola Virus, das in den Nullerjahren rund 10.000 Tote in drei afrikanischen Ländern forderte. Es ist dabei ein noch vergleichsweise leicht einzudämmendes Virus, weil die Ansteckung eingeschränkt ist. Gates erahnte, dass es aggressivere und schnellere Viren geben würde. Die Melinda und Bill Gates – Stiftung spielt in globalen Gesundheitsstrategien eine sehr wichtige Rolle. Die Ausrottung von Kinderlähmung, Malaria und anderer Menschheitsschrecken sowie die Finanzierung der Weltgesundheitsorganisation sind Kernanliegen der Stiftung. Seit Ebola warnt Bill Gates vor der fahrlässigen Unterschätzung der Pandemie-Gefahren und erreicht ein Millionenpublikum einschließlich Staatschefs und Wirtschaftsführern, aber keine Wirkung. Offenkundig aber hat die Welt nicht genau zugehört.

Auch der Hedgefonds-Manager Nassim Nicholas Taleb weist schon länger auf die Ähnlichkeit der Pandemien zur systemischen Finanzkrise der Nullerjahre hin und auf das pandemische Risikopotenzial, das eine überoptimierte Globalisierung bedeutet. Simuliert wird seit je auch die Gefahr von Massenmord durch Terrorattacken mit Pockenviren. Aber Simulationen werden offenbar selten ernst genug genommen.

Sicherlich ist nicht alles, was prophezeit wird, in gleichem Maße bedeutsam. Trendforschung und Zukunftswissenschaft unterliegen auch gewissen Trends. Anders ist das mit Vorhersagen aus berufenen Einrichtungen, die zudem noch im demokratischen Entscheidungssystem ihren Platz haben. Sie müssen besser gesichert und geprüft werden. Dass sie sich leicht ignorieren lassen, liegt auch (!) am Fehlen eines staatlich verantworteten Scans von Alternativen am Zukunftshorizont. Die Nachhaltigkeitsstrategie könnte dieses Defizit ausgleichen. Für ihre Nachhaltigkeitsziele bis 2030 müsste sie ja eigentlich ohnehin darlegen, was angestrebt, erwartet, vorausgesagt, denkbar, „unmöglich“, aber auch was im besten Sinne „unerhört“ ist. Auf dass das Wort Alternativlosigkeit ausstirbt.

Politik und Wissenschaft im neuen Modus

Risikoadaptierte Vorsorgestrategien benötigen eine resiliente, d.h. flexibel reaktionsfähige Forschung. Die wiederum geht nur auf der Basis einer guten Infrastruktur an Forschungseinrichtungen. Daran mangelt es in Deutschland sicherlich nicht, wohl zuweilen aber an dem strategischen Gespräch darüber, was Politik braucht und was Forschung bietet. Die wissenschaftliche Politikberatung kritisiert in aller Regel einen Mangel an Zuhören von Seiten der Politik und ohnehin einen Mangel an Umsetzung von Forschungsergebnissen. Das Paradebeispiel sind die nachhaltigen Entwicklung zum Artenschutz und zur Erderwärmung. An einer fruchtbareren Besetzung des Grenzlandes zwischen Wissenschaft und Politik wird umfangreich gearbeitet. Ein Niemandsland ist das schon lange nicht mehr. Aber die aktuelle Erfahrung, wie vertrauenswürdig eine evidenzbasierte Politik sein kann und wie produktiv die fortwährende Rückkopplung zwischen Forschung und Politik ist, sollte neue Initiativen bekräftigen, an die sich zuvor niemand herantraute. Gegenwärtig zeigt sich eindrucksvoll, wie produktiv unterschiedliche wissenschaftliche Bewertungen und Schlussfolgerungen sein dürfen, ohne dass sich gegnerische Lager bilden wie das sonst leider so oft der Fall ist.

Die Frage ist, ob und wie lange die aktuelle Erfahrung in der Politik hält, dass die vollumfängliche Nutzung wissenschaftliche Evidenz nützlich ist. Und die Gegenfrage ist, ob und welche Schlussfolgerungen die Wissenschaftscommunity aus der gewonnenen Relevanz zieht.

An dem Wert der sowohl an Grundlagen als auch an angewandten Fragestellungen forschenden Einrichtungen kann jedenfalls niemand vorbei. Das feinsäuberliche Auftrennen von Grundlagenforschung einerseits und der anwendungsorientierten Forschung andererseits ist passé, wenn es sich nicht schon ohnehin nur dem Mikadospiel um die eine oder andere Milliarde der Forschungsförderung dienlich war. Beide Fraktionen fördern das Verstehen und bereiten das Handeln gerade dann vor, wenn schnell und unkompliziert zusammengearbeitet werden muss. Forschung ist systemrelevant. Das wird eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Und diese Bedeutung haben nicht nur die Virologie und Epidemiologie im engeren Sinn, sondern sie gilt auch für die nötigen Beiträge aus der Gesellschaftswissenschaften, der Ökologie und den Naturwissenschaften.

An dem Wert und der Führungsstärke der Politik auf allen Ebenen, die sich in aufklärendem, transparenten und verantwortungsbewussten Krisenhandeln zeigt, kann ebenfalls niemand vorbei. Die sonst allgegenwärtige Kritik an „den Politikern“ und die Vorhaltungen eines so genannten Politikversagens sind erst einmal wohltuend leise geworden. Nicht, dass sie verstummt wären, aber ihre immer gleichen Rhetorik findet keine – jedenfalls nicht die übliche – Resonanz. Das ist eine Lehre, die hoffentlich Bestand hat.

Umdenken bei der Globalisierung

Wenn schon in Deutschland alle Kräfte mobilisieren muss, um die Pandemie zu überstehen, wie sehen eigentlich die Folgen der Corona-Pandemie in Schwellen- und Entwicklungsländern aus. Mit einem Wort: dramatisch.

Die ärmsten Staaten der Welt sind bei der Eindämmung, Diagnose und Behandlung von Corona Erkrankungen doppelt geschlagen. Rudimentäre Gesundheitssysteme treffen auf ohnehin beengte und krankmachende Lebensverhältnisse und die Defizite lassen sich nicht mal vom Weltmarkt einkaufen. „Social distancing“ ist in Favelas und Slums oft genauso ein theoretisches Geschäft wie verstärkte Händehygiene ohne Wasser. Das verspricht womöglich dramatische medizinische und humanitäre Folgen. Diese wiederum können wirtschaftlichen und soziale Dammbrüche bewirken. Schon jetzt wird von Kapitalflucht in Größenordnungen berichtet und dass globale Lieferketten auseinander brechen oder jedenfalls kurz davor stehen. Millionen von Arbeitslosen wären ohne jegliche soziale Absicherung. Furcht und Elend wären die Folge.

Weltweit sind mehr als 800 Millionen Menschen ohnehin chronisch unterernährt und gehören so zu den potenziellen Gefährdeten einer Pandemie. Dazu kommt die Zuckerfalle. Fettleibigkeit und Fehlernährung sind selbst schon eine Epidemie. Sie ist überall auf dem Vormarsch, kein Land ist ausgenommen, keine soziale Gruppe. Sie belastet die ohnehin global nur rudimentären Gesundheitssysteme.

Pandemien lassen sich weltweit nur gemeinsam überwinden. So banal diese Einsicht ist, so sehr sprengt sie die Grenzen des Gewohnten. Sie fordert ein Umdenken bei der Globalisierung. Denn die Möglichkeiten des Globalen Südens, ihre Wirtschaft und ihr Sozialsystem – und letztlich die staatlichen Funktionen – stabil zu halten, sind in einem Maße begrenzt, das in Deutschland unvorstellbar ist.

Gesundheit ist bisher nur ein marginaler Teil von Nachhaltigkeitsstrategien. Nicht nachhaltiges Wirtschaftswachstum heißt vor allem eines: Wir wachsen uns arm und krank und das beschwört Konflikte, Flucht und Vertreibung herauf. Das muss und kann sich ändern, wenn die globale Gesundheitsvorsorge eine größere Rolle erhält[3] und Technik, Innovation und Medikamente in kollektiver Verantwortung geteilt werden.

Neustart auch für Klima und Nachhaltigkeit

Die Umwelt- und Entwicklungsbewegung befürchtet aktuell, ins Hintertreffen zu geraten. Eben war man noch Top-Thema und jetzt kommt man nicht mehr vor. Corona nimmt die gesamte politische und öffentliche Aufmerksamkeit in Anspruch. Die gewohnten Feldzeichen des institutionellen Einflusses und der medialen Wirkung verblassen. Man befürchtet, dass Nachhaltigkeit und Klimaschutz in Vergessenheit geraten.

Die Befürchtung ist verständlich. Unternehmen sparen das Sponsoring von Nachhaltigkeitsinitiativen ein, stellen ihre Planung zur Klimaneutralität zurück, richten sich auf die Möglichkeit einer harten Rezession ein. Ärgerlich ist zudem, dass monetäre Schutzschirme jene Milliarden bereit stellen, die für die Energiewende, die Investition in Klimaneutralität und eine artenschützende Landwirtschaft bislang unerreichbar waren. Das  erhoffte Comeback des öffentlichen Lebens und „der Wirtschaft“ könnte – gewollt oder ungewollt – die alten Strukturen stärken. Der Shutdown schwächt dagegen die Startups und Pioniere des nachhaltigen Wirtschaftens sowie wagemutige Transformationen größerer Unternehmen. Sie haben oft eine geringere Eigenkapitaldecke und tragen höhere Risiken wie sie für Transformations- und Innovationsphasen oftmals typisch sind. Das Helikopter Geld der staatlichen Schutzschirme und das Corona-Loch schwächen die Zukunft und stärken das Gestern.

Es ist also richtig, wenn die Nachhaltigkeits- und Klimaakteure sich selbst thematisieren, wenn es sonst niemand tut. Erstens, weil in Deutschland niemand die Krise nutzt, um den Klimaschutz zu demontieren und die Nachhaltigkeitsagenda nicht einfach weg ist, nur weil sie im Augenblick kein mediales Top-Thema ist. Und zweitens, weil das Wiederanfahren der Wirtschaft und des öffentlichen Lebens eine Strategie zur nachhaltigen Entwicklung braucht. Manchem mag es unzeitgemäß scheinen, jetzt über Langfristiges nachzudenken, wo die wirtschaftliche Basis vieler Menschen kurzfristig in Frage steht. Diese Auffassung unterschätzt die Wirkung langfristiger Orientierung auf das kurzfristige Handeln. Ziele geben dem Handeln Sicherheit und darauf kommt es beim hoch schwierigen Wiedereintritt der Wirtschaft in die neue Zeit an. Politik im Krisenmodus braucht gutes Erwartungsmanagement. Zukunft zu denken ist daher Pflicht. Politische Verantwortung orientiert sich im Übermorgen, um im Heute mithalten zu können.

Zudem: Die zukünftige Re-Finanzierung der Schutzschirme löst schon jetzt Rufe nach massiven Konjunkturprogrammen aus. Dabei darf die Nachhaltigkeit nicht konterkariert werden, mit anderen Worten: Die Nachhaltigkeitspolitik muss jetzt „vor die Welle” kommen. Bisher ist sie es noch nicht.

Ein Neustart der Nachhaltigkeitspolitik – nach Überwindung des akuten Teils der Corona-Bedrohung – erscheint erforderlich.

Die Entthronung des Superlativs

Wenig überzeugend ist es, sich an die Pandemie-Krise quasi summarisch mit der Behauptung dran zu hängen, Pandemien, Tierseuchen und die Klimakrise seien im Grunde eins. Alles seien Krisen, so die falsche Behauptung, und alle würden das Gleiche zeigen: Nämlich die Krisengeneigtheit des neoliberalen Wirtschaftssystems, der exportorientierten Landwirtschaft, der fossilen Erstarrung, etc..

Jede Krise ist einzigartig: Von Seveso über Minamata, Dioxin, BSE bis hin zu den modernen Pandemien; und Gleiches gilt für Finanzkrisen. In der Ideen- und Methodengeschichte des Umweltschutzes – würde sie denn endlich einmal geschrieben – könnte man das vermutlich gut nachvollziehen.

In der Pandemie bewährt sich eine Krisenkommunikation, die anders ist, als was wir gewohnt sind. Bisher regierte der auf Alarm und Bedrohung zentrierte Superlativ, gefolgt von der Skandalisierung sowie dem progressiven Vorwurf an Versagen, Schuld und Fehlern.

Jetzt wird der Superlativ entthront durch eine Zweckrationalität, die situativ dem Rahmen angepasst wird. Die Krisenkommunikation der Bundesregierung erklärt fast nüchtern die Sachlage. Diese unaufgeregte, transparente und aufklärende Krisenkommunikation ist für die Mehrheit der Menschen sehr glaubwürdig. Sie vermeidet die Zuspitzung, mithin die Versuchung des Alarmismus, und bezieht sich stattdessen auf wissenschaftlich abgesicherte Zahlen und Ergebnisse sowie auf die wissenschaftsgestützte Interpretation. Die Eingriffe in die individuellen Freiheitsrechte werden deshalb akzeptiert. Der Einfluss der Wissenschaft auf die Politik war nie größer, für die Politik war die Wissenschaft nie nützlicher. Wissenschaftler haben selten zuvor so deutlich gemacht, dass es nicht „die“ eine Wissenschaft gibt, sondern dass unterschiedliche Vorgehensweisen und Ergebnisse dazugehören. Sie begründen erst den Diskurs mit der Politik Für Deutschland ist das Neuland. Es könnte zum Ende der Behauptung von „Alternativlosigkeit“ führen.

Im Superlativ wird man sich selten darüber klar, wo wir wirklich stehen und was getan werden muss und von wem. Alarmismus ist für die Politik gefährlich. Zum einen riskiert man die Abstumpfung bei denen, deren Hilfe erst langfristig helfen könnte und verhindert so Engagement. Zum anderen drängt der politische Alltag in seiner geschäftigen Betriebsamkeit wichtige Langfristfragen oft in den Hintergrund.

Die famose Suggestivkraft von „Krise“

Als gesellschaftspolitische Kategorie suggeriert „Krise“ mehr als der Duden. Krise fördert die Hoffnung, dass die Situation wieder in den normalen Status quo ante zurückschwingt. Das wollen auch viele Menschen in der gegenwärtigen Situation. Sie akzeptieren die Einschränkungen und wirtschaftlichen Verluste, weil es um Leben und Tod geht, aber auch weil sie hoffen, die Sache geht vorbei. Nach Corona werden alle froh und dankbar sein, dass sie ihren gewohnten Tätigkeiten und Abläufen wieder nachgehen können. Sie verstehen Krise als Ausnahme.

Das wird jedoch genau dann zu einer gefährlichen Täuschung, wenn die Normalität selbst die Krise ist. Das Anthropozän besteht im Grunde aus nichts anderem als einer endlosen Verkettung von Sachlagen, die jeweils durchaus Krisencharakter haben. Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie selbst hat bei der Wirtschaftspolitik einen (fast) blinden Fleck, und vice versa. Klimapolitischen Strategien geht es ähnlich. Zwar sind die Bepreisung von Kohlendioxid, die Subvention von Erneuerbaren und der Zertifikatehandel veritable Instrumente. Sie reichen in unternehmerische Entscheidungen hinein und werden so wirksam. Aber insgesamt fehlt eine industriepolitische Dimension, die bei Innovation, Werten und Haltungen, Pioniergeist und der Lust an Lösungen mit neuen Techniken und neuen gesellschaftlichen Verfahren zur nachhaltigen Entwicklung ansetzt. Hierzu reicht der Dialog zwischen Unternehmen mit Nachhaltigkeitsprofil und der Politik nicht an das heran, was notwendig wäre und schon gar nicht an das, was angesichts der praktischen Erfahrungen möglich wäre.

Ein Teil der Unternehmen, die in der akuten Krise Nothilfe vom Staat erhalten, trägt eine Mitschuld an ihrer wirtschaftlichen Malaise. Fluggesellschaften und Profifußball-Unternehmen leiden in der Tat unter dem Shutdown. Als Gewinner der Globalisierung haben sie die großen Gewinne der jüngsten Vergangenheit in Transfermärkte, die Ausweitung der Geschäftsfelder oder in Aktionsrückkäufe, Dividenden und Boni gesteckt – statt in branchensolidarische Vorsorgefonds für Notfälle. Auch in anderen Branchen weiß man, dass der bisherige Typ von Globalisierung immer feiner gezogenen Lieferketten mit immer mehr Abstimmungsaufwand (just in time) mit sich bringt. Die Optimierung der Betriebsabläufe wird einseitig mit „Effizienz“ übersetzt, andere Leitkriterien wie Suffizienz, Resilienz und Elastizität wurden als esoterische Prinzipienreiterei abgetan. Dass das System immer fragiler wird, liegt auf der Hand. Dagegen wappnete man sich durch Erfolg innerhalb des Systems. Das ist nichts anderes als ein Schneeballsystem. Es funktioniert solange, bis es das eben nicht mehr tut.

Nach-Corona ist nicht wie Vor-Corona

Auch die Nachhaltigkeitsstrategie wird den Zeitensprung vorausahnen, den Corona eventuell – noch kann man das nicht genau sagen – auslöst. Es ist aber sehr wahrscheinlich, dass es nach Corona nicht ganz genau so weitergeht wie vor Corona. Nachhaltigkeit braucht einen Neustart. Der könnte sogar nützlich sein. Warum sollte es nicht möglich sein, der ja sowieso irgendwann unvermeidlichen Vergemeinschaftung von nationalen Schulden der EURO-Gruppe proaktiv für die europäische Einigung zu nutzen, indem man sie mit einem Rahmen von europaweiten Nachhaltigkeitskriterien verbindet? Flexible Solidarität muss mit Haftung und Kontrolle verbunden sein und genau das gehört seit jeher zur DNA von Nachhaltigkeitsstrategien.

Traditionskritik ist ein nützliches Mittel, um Neuanfänge und Übergänge zu charakterisieren. Nur leider funktioniert es im vorliegenden Kontext nicht so recht. Nachhaltigkeitspolitik ist zu jung und das Anthropozän ist oft zu schnell.

Auf eine transatlantische Inspiration, wie sie in der Geschichte der Bundesrepublik so oft schon geholfen hat, kann man seit vielen Jahren schon nicht mehr setzen.

Pfadabhängigkeiten – das Früher schrumpft die Optionen des Später – ist dagegen ein viel versprechendes Analyse- und Handlungskonzept. Es setzt an der Lernfähigkeit – oder ihrem Mangel – von Gesellschaften an. Im positiven Fall kanalisiert das Konzept kritische Momente in die Transformation (und neue Pfade) hinein. Das ist nichts Neues. Vielmehr gehört es in jenen Unternehmen und Initiativen längst zur Praxis, die sich zu den besten Nachhaltigkeits-Akteuren Deutschlands zählen dürfen.

Die tiefen Corona-Einschnitte in die Wirtschaft und das öffentliche Leben verändern die Haltung des zivilgesellschaftlichen Mainstreams zum nachhaltigen Wirtschaften, und zwar nicht nur im Augenblick, sondern, so ist zu hoffen, auch längerfristig. Noch dominiert die Annahme, alles sei ohnehin nur Greenwashing. Sie wird zwar selten durch Fakten belegt, ist aber umso beliebter, weil schön einfach: Es gebe ja schon so etwas wie „nachhaltig produzieren“, aber der Markt und die Unternehmen, so der Vorwurf, handelten nicht aus substanzieller Motivation zur Nachhaltigkeit, Ökologie oder den Menschenrechten. Vielmehr überwiege der modische Mitnahmeeffekte; das Adjektiv nachhaltig höre sich einfach gut an und würde ohnehin nicht geprüft. Nötig sei dagegen der zerstörerische Aufbruch.

Dieser Haltung fehlt es nicht nur an Empirie und Empathie für die in den Pionierunternehmen handelnden Personen; sie ist auch ohne konzeptionelles Hinterland. Historisch bestanden die Großen Transformationen oftmals daraus, dass  anfangs als „unerhört“ empfundene Innovationen alltäglich wurden. Das geschah durch Wiederholung in vielen „kleinen“ Fällen. Die strukturierte Wiederholung wirkt stärker als die historische Einmaligkeit. Das, was Netzwerke von Akteuren und Initiativen routinisieren können, bietet die beste Chance für neue und verbesserte Pfadabhängigkeiten zur nachhaltigen Entwicklung. Stichworte sind die Infrastruktur für Wasserstoff, Erneuerbare Wärme und Strom in einem reformierten Bezahlmodus eines EEG, nachhaltige Datenökonomien, Technologien mit Transformationseffekten, ein öffentlicher Datenraum für nachhaltiges Produzieren in zirkulärer Wirtschaft.

Der Vorsorgestaat

Das Corona-Jahr 2020  beschwört die Tragweite von Vorsorge. Vorsorgestrategien sind ein politisches Bewährungsfeld. Das ist neu, denn bisher gilt Vorsorge als etwas, das Ängstliche und berufsmäßig Übervorsichtige fordern, wenn eigentlich alles getan ist. Vorsorge ist immer irgendwie unbestimmt und am Ende meist lästig, so das jahrelange Empfinden, mit dem jetzt auf einem mal Schluss sein muss. Vorsorge braucht jedoch einen höheren politischen Stellenwert. Hier besteht eine Parallele zu den Klimarisiken. Bis Corona wurde die Pandemie-Vorsorge ähnlich nachlässig und stiefmütterlich behandelt wie es heute noch für die Nachhaltigkeits- und Klimarisiken der Fall ist.

Die Corona-Pandemie lehrt die Bedeutung von Werten, die bisher nicht im Vordergrund standen. Zuallererst gilt das für den systemrelevanten Wert der Arbeit von Menschen, die für andere da sind, aber meist wenig Geld verdienen, weil das Konzept der Gemeinnützigkeit bisher unterbewertet ist. Zu nennen ist auch der Wert resilienter industrieller Vernetzung, von gesundheitlicher Infrastruktur, von Forschung und von Politik auf wissenschaftlicher Evidenzbasis.

Zentral ist das Verständnis für nachhaltige Vorsorge. Es unterscheidet sich von der Abwehr konkreter Gefahren, die in jeder Krise das erste Gebot ist. Gefahren sind unmittelbar und konkret vorliegende Bedrohungen, die bei ungehindertem Ablauf zu Tod, Verletzungen und Schäden führen. Vorsorge dagegen agiert weit im Vorfeld der Gefahrenabwehr und trifft Vorkehrungen, die einen Schadensfall ausschließen oder seine Auswirkungen minimieren. Vorsorgestrategien sind angepasst an die vermutbaren Risiken. Was vermutet werden kann, ist meist Ergebnis wissenschaftlicher Abschätzungen. Vorsorge ist faktenbasiert. Risikoadaptierte Vorsorgestrategien sind der Kern des Umweltschutzes. Es gibt vielfältig übertragbare und wirtschaftlich tragfähige Erfahrungen aus der Praxis zum Beispiel der Regulierung von problematischen Stoffen und des Immissions- und Bodenschutzrechtes.

Vorsorge sollte der Maßstab für den Wiedereinstieg in die gesellschaftliche Stabilität sein. Nachhaltigkeit und Zukunft sind das Produkt aus millionenfacher Hoffnung von Menschen. Gemacht wird es aus konkreten Zielen, Greifbarem und Fernliegendem, und aus dem Vertrauen vieler Menschen in ihr eigenes Können und in die eigene Chance, am Gemeinwohl mitzubauen. Die Infektionsbekämpfung geht nur als Gemeinschaftswerk. Die überwältigend breite Hilfsbereitschaft in der Krise zeigt, dass das ankommt. Gute Politik könnte hier die Basis für ein Gemeinschaftswerk Nachhaltigkeit sehen.

Komplexität gewinnt, Gemeinschaft ist fassbar

Der Vorsorgestaat wird – aufgrund aus Erfahrung gewonnenen Einsichten – die Verfügbarkeit wichtiger Medizinprodukte und Behandlungstechniken sicherstellen. Das sind wichtige, aber nur letztlich technische Aspekte. Die sozialen und politischen Konsequenzen greifen tiefer.

Zunächst ist das eine Frage der Erkenntnis. Probleme, die vielschichtig und komplex sind und die alle betreffen, erfordern von Politik und Gesellschaft eine genau spiegelbildliche Antwort in Haltung und Verständnis. Davon sind wir weit entfernt. Noch unterliegen wir der Dominanz der Vereinfacher und „Auf-den-Punkt-Bringer“. Sie lehren uns ohne Unterlass, dass man verzwickte Sachlagen nur dann beherrsche, wenn man sie auf den Kern reduziert; dass man für Medien und Öffentlichkeit immer skandalisieren müsse; dass man „zuspitzen“ muss und übertreiben darf; dass nur der „wer ist“, der sich querlegt und verweigert; dass Eigennutz die Wohlfahrt steigere. Indessen ist das Gegenteil der Fall und es ist durchaus möglich, vielschichtig, komplex und gemeinsam zu agieren. Komplexität ist kein Unding, sondern hilft in der Not, indem sie Wege aufzeigt, die der Reduktionismus nicht sieht. Gemeinsamkeit ist kein Aperçu, wie es in Appellen gerne vorkommt („nur gemeinsam werden wir das schaffen“), sondern harte Arbeit. Gemeinschaftswerke gehören nicht ins Feuilleton, sondern auf die Seite Eins der Politik. Gemeinschaftswerke zu begründen und von der Politik aus zu motivieren, gehört zu den höchsten und anspruchsvollsten politischen Übungen. Gesetze erlassen können viele, aber Gemeinschaftspolitik zu entwickeln können bisher nur wenige Politiker.

[1] Vom Anthropozän zu sprechen, ist nicht ohne Problematik. Der Begriff beinhaltet auch einen Anteil menschlicher Selbstüberschätzung. Er sieht den Menschen als losgelöst von der Natur, was ja gerade in Corona-Zeiten eher widerlegt wird. Aber außer Zweifel steht auch, dass mit der Klimaerwärmung, dem Plastik im Meer und der nuklearen Bewaffnung der materielle Einfluss des Menschen auf den Planeten größer ist als je zuvor, was das „Zeitalter vom Menschen“ aussagen will.

[2] Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012, Bt-Drs. 17/12051 vom 3.1.2013

[3] Ein nachhaltiger Beitrag zur Sicherung der Weltgesundheit. Impuls zur Beratung im Staatssekretärsausschuss für nachhaltige Entwicklung am 29.10.2018, https://www.nachhaltigkeitsrat.de/wp-content/uploads/2018/10/20181004_HWZ_zu_StA_Globale_Gesundheit.pdf

Der Text als PDF zum Download

Weitere Texte auf www.guentherbachmann.de

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